Elektrophysiologie: Was
ist das?
Immer wieder erreichen mich Anfragen von Menschen,
die keinen medizinischen Hintergrund haben und die zufällig oder nach
einem Arztbesuch auf meinen Seiten gelandet sind. Da es keine für
den Laien geeignete Literatur gibt, wenden sich die folgenden Zeilen daher
speziell an die interessierten Nichtmediziner.
Elektrophysiologie beschäftigt sich
mit Fragen, die die Funktionsweise der Nerven betreffen. Manchmal sind
Nerven durch Krankheiten oder Unfälle beschädigt. Eine Hand oder
ein Fuß kribbelt. Hände fangen an zu zittern. Manche Patienten
leiden unter Schwindel, Ohrgeräuschen oder unter Sehstörungen.
Der Arzt untersucht dann, woher das Problem kommen könnte. Wenn der
Verdacht besteht, dass eine Nervenschädigung oder eine Schädigung
des Gehirns vorliegt, dann kommt die Elektrophysiologie ins Spiel.
Vereinfacht kann man sich den menschlichen
Körper gewissermaßen verkabelt vorstellen. Die einzelnen "Nervenkabel"
laufen in dicken Strängen durch den Körper und werden immer stärker
aufgefächert bis in den kleinsten Muskel und die kleinste Sinneszelle
hinein. Das Gehirn sendet über die Nerven elektrische Impulse zu Muskeln
und Organen und bekommt von dort Signale zurück, die es entsprechend
interpretiert. Wir haben für die verschiedenen Sinnesreize, die für
unser Leben wichtig sind, unterschiedliche Wahrnehmungs- bzw. Sinneszellen,
die alle über Nerven und das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden
sind. Es gibt Sinneszellen z.B. für Wärme, Kälteempfindungen,
für Schmerz, für das Tastempfinden, das Hören, Riechen,
Schmecken, Sehen usw. Diese zum Wahrnehmungsapparat des Körpers gehörenden
Sinneszellen und Nerven nennt man sensible Bahnen oder das sensible Nervensystem.
Alle Nerven, die zu Muskeln führen nennt man motorische Nerven oder
Fasern. Eine motorische Faser endet in dem jeweiligen Muskel, für
dessen Versorgung sie zuständig ist, an einer sog. motorischen Endplatte.
Hier wirkt sie gewissermaßen wie eine Zündkapsel in einer Sprengladung.
In dem Moment, wo sich die Endplatte entlädt wird eine genau dosierte
Kettenreaktion in Gang und damit die in den Muskeln gespeicherte Energie
freigesetzt.
Bei einer Lähmung kann es z.B. sein,
dass ein Nerv beschädigt ist. Er wurde z.B. durch einen Unfall überdehnt,
gequetscht, durch einen Bluterguß abgedrückt oder schlimmstenfalls
sogar abgerissen. Seit einigen Jahren ist es möglich genau festzustellen
ob und wie ein Nerv beschädigt wurde. Dazu legt man dem Patienten
an den Stellen, wo der Nerv nahe an der Hautoberfläche vorbeiläuft
ein Kabel an. An einer anderen Stelle stimuliert man den nun den Nerv mit
einem kleinen elektrischen Impuls. Man kann nun über die Zeit, die
der Reiz braucht, um vom Ort, wo das Signal angelegt wurde bis zum Ort
wo das Signal empfangen wurde die Geschwindigkeit der elektrischen Nervenleitung
ausrechnen. Die so ermittelte Nervenleitgeschwindigkeit kann über
Tabellen mit den Durchschnittswerten der Bevölkerung vergleichen,
man kann aber auch z.B. die Untersuchung auf der anderen Körperseite
wiederholen. Über den Seitenvergleich der verletzten zur unverletzten
Seite und über den Vergleich mit den sogenannten Normwerten bekommt
ein aussagekräftiges Ergebnis über die Art der Erkrankung bzw.
Verletzung.
Man kann aber auch messen, ob und wie ein
elektrischer Impuls oder ein anderer Sinnesreiz im Gehirn ankommt und verarbeitet
wird. Auch hierzu gibt es eine Reihe von Verfahren. Wenn z.B. der Sehnerv
untersucht werden soll, dann schauen die Patienten auf einen Monitor mit
einem Schachbrettmuster. In diesem Schachbrettmuster wechseln schwarze
und weisse Flächen in einer genau festgelegten Abfolge ständig
hin und her. Über eine Elektrode an der Kopfhaut kann man jetzt messen,
wie dieses Signal im Gehirn verarbeitet wird. Man spricht bei dieser Untersuchung
von visuell evozierten Potenzialen. Statt des Monitors mit dem Schachbrettmuster
wird manchmal auch eine Blitzbrille verwendet. Bei den sog. akustisch evozierten
Potenzialen verwendet man einen Kopfhörer, in dem eine Art Klickton
zu hören ist. Bei den sensiblen Nerven verwendet man einen leichten
Stromreiz oder einen magnetischen Impuls. Diese evozierten Potenziale sind
von der Untersuchungstechnik her mit dem Elektroenzephalogramm, kurz EEG
verwandt. Die Punkte an denen der Hirnstrom gemessen wird, werden nach
dem gleichen System wie beim EEG bestimmt.
Die dritte große Gruppe der Untersuchungen
betrifft die Frage, wie ein körpereigener elektrischer Impuls im Muskel
ankommt und dort verarbeitet wird. Bei der sog. Elektromyographie (EMG)
wird mit einer feinen Nadel in den Muskel gestochen. Der Strom im Muskel
wird jetzt elektrisch verstärkt und hörbar bzw. sichtbar gemacht.
Solange ein gesunder Muskel ganz entspannt ist hört man nichts im
Gerät. Wenn der Muskel angespannt wird, dann fängt es im Gerät
an zu knattern und zu brummen. Bestimmte Nerven- aber auch Muskelerkrankungen
sind schon am Geräusch zu erkennen, mit dem sie sich bemerkbar machen.
Wenn ein Muskel z.B. gar nicht mehr von seinem Nerv versorgt wird, dann
bildet er sich nach und nach zurück. Dieser Abbauprozess ist über
die Elektromyographie schon zu sehen und zu hören, noch bevor der
Patient das bewußt registriert hat. Das Entladungsmuster des Muskels
verrät einiges über die Art der Erkrankung bzw. der Verletzung.
So kann z.B. feststellen ob der Muskel erkrankt ist, oder ob der Nerv betroffen
ist: Wurde der Nerv abgetrennt oder ist er nur überdehnt worden? Man
kann feststellen ob eine Nervenerkrankung mit einem Medikament behandelt
werden kann oder nicht. Man kann aber auch eine Aussage darüber treffen,
ob ein Nerv oder ein Nervenkanal operiert werden muß. Einer Operation
z.B. am Carpaltunnel durch den ein Teil der Nerven läuft, die die
menschliche Hand versorgen, geht immer eine elektrophysiologische Untersuchung
voraus. Auch die Frage, ob eine Bandscheibenoperation angesagt ist oder
nicht, wird oft elektrophysiologisch untersucht.
Elektrophysiologische Untersuchungen werden
heute vielfältig zur medizinischen Diagnostik eingesetzt. Man findet
sie zunehmend nicht nur bei Neurologen und Neurochirurgen, sondern auch
bei Hals-, Nasen-, Ohrenärzten und bei Augenärzten. Auch orthopädische
Kliniken und Praxen haben oftmals schon ein entsprechendes Diagnosesystem.
Zunehmend gewinnen die Verfahren auch bei der Schmerzdiagnostik an Bedeutung.
Besonders wichtig wird die Elektrophysiologie
in der Intensivmedizin, um z.B. zu überprüfen, ob noch Hirnfunktionen
bei einem Schwerstverletzten vorhanden sind. Auch im Operationssaal werden
vielfach schon elektrophysiologische Verfahren eingesetzt. Diese Art der
Überwachung im Operationssaal nennt man intraroperatives Monitoring.
Die hohe Kunst der Differentialdiagnostik
In der elektrophysiologischen Ausbildung lernt
man viele unterschiedliche Dinge. Wo laufen die Nerven entlang, wie heißen
sie und welche Muskeln versorgen sie? Wo ist wegen der dort vorbeilaufenden
Artherien besondere Vorsicht bei der Untersuchung geboten? Wo und wie kann
man die Nerven oder Muskeln messen und was bedeuten die Meßergebnisse
einzeln für sich genommen und in der Kombination? Dazu muß man
verstehen, wie Nerven, Muskeln, das Gehirn und die Reflexe im Körper
funktionieren. Man braucht ein Verständnis für die verwendete
Meß- und Ableitetechnik, die Meßapparate und das Zubehör.
Je empfindlicher die Geräte sind, desto anfälliger sind sie für
Störungen und Meßfehler. Am wichtigsten aber ist die Frage,
wie man die einzelnen Ergebnisse interpretiert und wie man die vorangegangene
klinische Untersuchung optimal und zeitsparend mit den elektrophysiologischen
Methoden kombiniert? Manchen Krankheitsbildern kommt man eben erst dann
auf die Schliche, wenn die einzelnen Befunde zueinander in Beziehung gesetzt
und aufeinander abgestimmt werden.
Wenn Sie selbst zur Untersuchung einbestellt
werden
dann vermeiden Sie Haarspray, Styling-Schaum
oder Gel in den Haaren, da diese Substanzen die Untersuchung behindern
können. Sorgen sie für saubere Wäsche und Strümpfe
und kontrollieren Sie ihren Körpergeruch: Bei der Untersuchung kommen
sich Patient und Arzt bzw. Patient und Assistentin sehr nahe. Je nach Krankheit
oder Verletzung kann es sein, dass sie sich bis auf die Unterwäsche
ausziehen müssen. Es ist für Sie und das Untersuchungspersonal
weniger peinlich und belastend, wenn sie frisch gewaschen und geduscht
und in frischer Wäsche zum Termin erscheinen!
Ganz besonders wichtig: Wenn sie Medikamente
einnehmen, die die Blutgerinnung herabsetzen, dann sollten sie das unbedingt
vor der Untersuchung angeben. Das gleiche gilt für Erkrankungen wie
Corona, Hepatitis oder Aids, die Sie ebenfalls unbedingt angeben müssen.
Die Untersuchungen selbst sind an sich
harmlos, je nach Fragestellung sind sie mehr oder weniger unangenehm. Da
manche Ergebnisse nur mit Nadelelektroden zu bekommen sind, kann es passieren,
dass man Sie in einen Muskel oder in die Haut sticht. Das Gefühl ist
vergleichbar einer Spritze. Oft wird auch mit Strom oder - eher seltener
- mit Elektromagneten stimuliert. Die Stromstärken sind aber sehr
niedrig. Gesundheitsgefahren durch die elektrische Reizung sind uns bei
dieser Art Untersuchung bislang nicht bekannt.
©2021 Samuel J. Fleiner. Abdruck und
Vervielfältigung nur mit Autorenangabe. Belegexemplar erbeten. |